Was ist Gospel

Was ist Gospel

Der Begriff „Gospelmusik“ steht im Allgemeinen für religiöse Musik. Das Wort „gospel“ ist die englische Übersetzung von „Evangelium“ (dem neuen Testament), das sich aus den Begriffen „good spell“ zusammensetzt und wörtlich als „gute Nachricht“ zu übersetzen ist.

In einem gedruckten Werk wurde der Ausdruck „Gospelsong“ erstmals vermutlich 1874 von Philipp P. Bliss verwendet, und zwar für eine Sammlung seiner Kompositionen für das gemeinschaftliche Singen bei religiösen Versammlungen: „Gospel Songs, A Choice Collection Of Hymns And Tunes“.

Geprägt wurde der Begriff Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als Bezeichnung der religiösen Lieder der afroamerikanischen Kirchen in Nordamerika. Diese Lieder waren eine Weiterführung der „Negro Spirituals“ unter starker Einbeziehung von Jazz- und Blueselementen. Diese Art von Gospelmusik, auch mit „black gospel“ oder „negro gospel“ bezeichnet, war meistens der Gemeindegesang oder wurde solistisch vorgetragen, in kleinen Gesangsgruppen oder von Chören gesungen und oftmals von einer Jazzband mit Schlagzeug, Bass, Klavier und Orgel begleitet.

Die Entstehung der musikalischen Merkmale der Gospelmusik steht in engen Zusammenhang mit der Geschichte der Afroamerikaner in der Sklavenzeit und der Entwicklung ihrer Kirchen:

Unzählige Afrikaner wurden auf Schiffen verschleppt und mit Waffengewalt zum Sklavendienst gezwungen. Es gab nichts, was sie mitnehmen durften und konnten, außer Teilen ihrer Kultur – besonders ihre Musikalität. Die Afrikaner konnten sich zum Teil nicht untereinander verständigen, da sie bewußt getrennt wurden und aus unterschiedlichen Stämmen mit unterschiedlichen Sprachen kamen.

Das emotionale Singen der traurigen und mutmachenden Liedern der „negros“ auf den Schiffen und das Tanzen der Sklaven bei der Arbeit und bei Versammlungen war wie in afrikanischen Riten ein lebensnotwendiger Ausdruck ihrer Identität. Ein wesentliches Merkmal dieses Gesanges war der „Shout“, ein expressiver, gewissermaßen geschriener Gesangsstil. Auch als „Ring-Shout“ bekannt standen die Sklaven dabei im Kreis, tanzten, klatschten und scharrten mit den Füßen („Shuffle“) zu einer rhythmischen Melodie, die im Wesentlichen nur aus einem Rezitationston und einigen Nebentönen bestand. Ein weiteres Merkmal war das Steigern des Gesanges in immer höher werdenden Tonlagen.

Das Singen fand auch während der Arbeit statt. In den „Worksongs“, „Calls“ oder „Cries“ ging es vor allem um das gleichmäßige Ausführen bestimmter Bewegungsabläufe der Arbeitenden und das Erleichtern von physischer Arbeit durch emotionale „Arbeit“, nämlich das Singen. Auch das Herbeirufen der Arbeiter zum Essen oder das lautstarke Anbieten der Ware auf dem Markt geschah in dieser halb gesprochenen, halb gesungenen Form.

In den Worksongs gab ein Vorsänger den Rhythmus und die Melodie an, die dann von allen anderen aufgenommen wurde.

Es gab noch andere musikalische Formen der afroamerikanischen Sklaven, wie „Folk Songs“, „Prisoners Songs“ oder „Ballads“. Alle diese Musikformen haben eines gemeinsam: Die aus der afrikanischen Polymetrik stammende starke Rhythmik und die Betonung der „off-beats“ – die Schläge zwischen den Grundimpulsen, die den Gesang vorantreiben. Wesentliches Merkmal ist die Erregung, die durch die Gesangsweise hervorgerufen wird und nicht selten zur Ekstase der Singenden führt.

Die Sklavenhalter versuchten durch christlichen Glauben die Sklaven nach dem weißen Ideal zu zivilisieren, aber auch durch die Bibel zur Unterwürfigkeit zu erziehen. In „Erweckungsbewegungen“ im 18. Jahrhundert wurden in großen Versammlungen Weiße als auch Schwarze bekehrt. Warum die Sklaven die weiße Religion so schnell aufnahmen, ist nicht eindeutig belegt. Ein Grund könnte die Betonung der Freiheit und Gleichberechtigung in der Bibel sein, die sich in Sklavenaufständen, die von schwarzen Predigern angeführt wurden, konkret zeigten. Vielleicht war es auch die Aussicht auf ein „ewiges Leben im Himmel“, das sich in den Liedtexten ausdrückte. Vor allem aber identifizierten sie sich mit dem Volk Israel, daß sich aus der Sklaverei in Ägypten befreien ließ.

Ab 1773 wurde die Gründung von offiziellen „Neger-Kirchen“ erlaubt, wodurch sich die Weißen eine Trennung versprachen. Der Versuch der Zivilisierung der Schwarzen nach den Vorstellungen der Weißen war mißlungen.

Da die wenigsten Sklaven lesen konnten, wurden Liedtexte so eingeübt, daß ein Sänger eine Phrase vorsang, die alle anderen nachsangen. Aber auch die Strophen konnten vorgesungen werden, während alle anderen im Kehrvers einstimmen konnten. Dieses Prinzip wird mit dem Begriff „Call & Response“ bezeichnet.

Negro Spirituals wurden einstimmig gesungen. Zunächst von den Weißen übernommen, entwickelten die Schwarzen später eigene Melodien und Texte. In gottesdienstlichen Versammlungen wurden Predigten halb gesunden, halb gesprochen. Dadurch animiert brachte sich die Gemeinde durch Zurufe und Klatschen mit ein. Ganz allmählich entwickelten sich aus gemeinsamen Improvisationen ein Wechselgesang. Dabei zeichnete sich die Gesangsweise des Vorsängers durch starke Verzierungen aus.

Die Verbreitung der Lieder fand bis zur Veröffentlichung des ersten Gesangbuches 1801 nur durch mündliche Weitergabe statt. Die Texte der Lieder waren nicht nur Ausdruck des Glaubens, sondern beinhalteten oft in zweideutiger Weise politische und soziale Situationen („double-talk“). Sie ermöglichten auch den Austausch von geheimen Fluchtbotschaften während des Singens bei der Arbeit.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die mehrstimmige Form des Negro Spirituals, die sich zunächst auf parallele Linien zur Melodie beschränkte, später aber an das europäisch geprägte, funktionale Harmonieschema angeglichen wurde. Auch durch die Überlassung von alten Kirchengebäuden mit ihren Instrumenten (Harmonium, Klavier) an die schwarzen Christen entstand ein größerer Bezug zur europäischen Musizierweise.

Nach der Abschaffung der Sklaverei wurden viele ehemalige Sklaven arbeitslos. Hilfsorganisationen ermöglichten Ausbildungen und gründeten Schulen und Universitäten, in denen sich Gesangsgruppen gründeten. Deren Lieder fanden große Verbreitung, auch unter den Weißen. Die Leiter, die die Chorarrangements schrieben, waren meistens Weiße. Das führte dazu, daß die charakteristischen Modi der Negro Spirituals in Richtung klassischer Musik verändert wurden.

Große Auswanderungswellen in die Großstädte hinein hatten zur Folge, daß die Negro Spirituals mit anderen Formen des Jazz vermischt wurden. Die schwarzen Kirchen versuchten zunächst die Einflüsse des Jazz in ihre Musik zu unterbinden. Wenngleich sie die gleichen Wurzeln hatten, wollte man sich inhaltlich vom Jazz distanzieren, der überwiegend in Bordellen, Kneipen und Tanzschuppen gespielt wurde. Doch die Entwicklung war nicht aufzuhalten. Im 20. Jahrhundert erhielt der Jazz immer mehr Einzug in die größer werdenden Kirchen.

Mit dem veränderten Sound änderte sich auch der Name der Musik: Da sich die Texte mehr auf das Neue Testament bezogen (es gab keine Identifikation mit dem versklavten Volk Israel), wurde nicht mehr vom Negro Spiritual, sondern vom „Gospelsong“ gesprochen.

Es gab in den 30er Jahren unzählige Gospelsänger und -gruppen. Es bildeten sich neue Stile, die von mehr Instrumenten begleitet wurden. Es entstanden Kassenhits, die die Verbreitung der Gospelmusik vorantrieb und diese auch in Europa bekanntmachten.

Mit der Gospelmusik verband sich weiterhin politisches Gedankengut, denn die schwarzen Gottesdienste blieben auch in den 50er Jahren ein Ort, in dem sich die Afroamerikaner so frei wie nirgends sonst ausdrücken konnten. Für den Austausch politischer Gedanken und Diskussionen war die Kirche der wichtigste Versammlungsort. Bürgerrechtsbewegungen gründeten sich häufig innerhalb der afroamerikanischen Kirchen, wie die größte Friedensbewegung ab 1955 unter dem Pastor Martin Luther King.

Heutzutage gibt es die verschiedensten Formen afroamerikanischer Kirchenmusik. Je nach Gemeinde und geographischer Lage reicht das Spektrum von Gemeinden, die die Tradition der Negro Spirituals pflegen, bis zu Kirchen, die die europäische Musik ganz übernommen haben.


Verfasser:  Micha Keding, 2001, Diplomarbeit
„Der Einfluß der Gospelmusik auf den Jazz zwischen 1950 und 1970“ (Auszug)